Rocketman Fred

„Ey, Alte, dich ha’m ’se bestimmt gephotoshopt,
so hübsch ist doch keine echte Frau!“

Manfred M. beim Flirten

Matthias Grau, Rocketman Fred

Das Dorf am Ende der Welt

Da behaupte noch mal einer – in der Provinz sei nichts los! Wie man sich irren kann! Buchhalter Manfred M., wohnhaft in Hinterunterkleinsttrödelingen, erhält ein Paket, das eigentlich gar nicht für ihn bestimmt war. Beim Öffnen entdeckt er einen derart brisanten Inhalt, dass er Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um es wieder loszuwerden. Doch merkwürdig – die Rückgabe gestaltet sich ziemlich schwierig, denn die bürokratischen und menschlichen Hürden scheinen unüberwindbar. Und das ist fatal, denn der ominöse Inhalt der Lieferung verleiht dem Besitzer eine ganz besondere Fähigkeit: Unbegrenzte Macht. Doch selbst damit muss man erst mal umgehen können!

Der Roman „Rocketman Fred“ beschreibt humorvoll den alltäglichen Horror einer kleinen Dorfsiedlung und die Folgen der unerwarteten Paketlieferung. Dabei orientiert sich die Geschichte auch am immer weiter eskalierenden Irrsinn unserer modernen Zeit.


Leseprobe

Endlich Wochenende! Der Freitag war wie immer nur schleppend vorangekommen. Montage huschten stets rasch vorbei, doch dieser verdammte letzte Arbeitstag der Woche zog sich immer endlos hin. Vor der Bürotür wartend, verfolgte Manfred M. den dünnen Sekundenzeiger auf seiner Bahn bis zum Zenit des Zifferblattes. Oder was er dafür hielt, denn die fast blinden Brillengläser ließen nur unscharfe Konturen der schnörkellos rationalen, quarzstabilisierten Herrenarmbandzeitmesseinrichtung erahnen. Punkt siebzehn Uhr dreißig zog er den Schlüssel aus dem Schloss und lief in die Tiefgarage hinab, seinem Auto entgegen:

Ein zwanzig Jahre alter Personenkraftwagen blinkte lustlos, als er vom Schlüssel über Funk den Befehl zum Aufschließen der Türen erhielt. Deutsches Fabrikat, untere Mittelklasse, spießig, langweilig und ohne erkennbares Design. Der Lack des Wagens war durchaus gepflegt, kein sichtbarer Rost, weder Kratzer noch Beulen, und dennoch war der Gelbton, eine Mischung aus Pestgrün und Ebola­gelb, kein erfreulicher Anblick.

Manfred stieg ein und zog die Tür zu. Der Fahrersitz, ver­un­stal­tet mit einem zum Gelbton des Außenbleches vollkommen un­passenden Velourstoff in dunklem Braun, entstellt mit hellgrünen vertikalen Streifen, knarzte in seiner Halterung wie ein altes Sofa. Vermutlich hatte der Entwerfer des Fahrzeugs, denn als Designer konnte man ihn wegen der vollkommenen Abwesenheit jeglichen Verdachtes von Design nicht bezeichnen, dieser Entwerfer also hatte vermutlich wegen heftiger Verdauungsprobleme eine längere Zeit kopfüber in der Sanitäreinrichtung des Feuchtbereichs neben seiner Entwurfsabteilung zubringen müssen, um auf eine derart unappetitliche Gesamtfarbkombination zu kommen.

Manfred fiel das überhaupt nicht auf. Er war kein Augenmensch, schon wegen der ständig verschmierten Brille. Seine Welt bestand nur aus reizlosen Zahlen, und das Einzige, was ihn beim Gebraucht­wagenhändler seines Vertrauens zum Kauf dieser optischen Scheußlich­keit motiviert hatte, war der Preisnachlass.

Er registrierte auch nicht, dass Erika, seine Frau, 36 Jahre alt,

Geburtstag 24. Juni 1986, Staatsangehörigkeit Deutsch, Geburtsort Hinterunterkleinsttrödelingen, Augenfarbe grün, Haarfarbe blond, Größe 165 cm, Gewicht 962 kg, Anschrift 05180 Hinter­unter­kleinst­trödelingen, Wiesengasse 17, sich nach ausführlicher Inspektion der attraktivitäts­fernen Personenkraftwagenneuanschaffung neben dem Eingang des Gebrauchtwagenmarktes mehrfach übergeben musste, während er den Kaufvertrag unterschrieb.

Gelegentlich wunderte er sich über die aus seiner Sicht unerklärlichen Würgegeräusche, auch über ihre ungewohnte Sprachlosigkeit, wenn sie neben ihm auf dem Beifahrersitz Platz nahm, was ihm an sich aber sehr gelegen kam, denn er mochte allzu kommunikative Menschen nicht. Er mochte auch un­kom­muni­kative Menschen nicht. Eigentlich mochte er überhaupt keine Menschen. Die ungesunde Gesichtsfarbe, die sich auf Erikas Gesicht zeigte, sobald sie das Auto bestieg, nahm er hingegen nicht wahr – Pestgrün und Ebolagelb.

Nachdem Erikas Gewicht immer weiter anstieg, hatte es sich mit dem Beifahrerdasein sowieso erledigt, denn sie passte nicht mehr ins Auto und verbrachte ihr Leben überwiegend zwischen Wohnzimmercouch und Ehebett. Ohnehin hätte ihre weitere Anwesenheit verkehrs­gefährdende Dimensionen angenommen, denn zusammen mit ihrem Gewicht stieg auch das Ausmaß ihres Mundgeruchs bedenklich an.

Manfred fährt nach Hause, wird dort mit dem gewohnten Desinteresse von Frau und Kindern begrüßt. Außerdem mit der Neuigkeit, eine Lieferung sei für ihn eingetroffen. Nach einigem Hin und Her entschließt er sich, sie erst am nächsten Tag zu inspizieren. Was er dann entdeckt, verschlägt ihm die Sprache und nötigt ihn dazu, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um das da – in der großen Kiste – schnellstmöglich wieder loszuwerden. Was aber leider gar nicht so einfach ist:

Er wählte die 112. Eine zauberhafte Frauenstimme meldete sich.

„Willkommen beim Notrufservice der Feuerwehr, …“

„Ja, hallo, ich …“

„… wenn Sie einen Brand melden möchten, wählen Sie bitte die 1. Haben Sie gesundheitliche Probleme, wählen Sie bitte die 2. Bei Überschwemmungen und Unwetterschäden wählen Sie bitte die 3. Haben Sie einen Unfall, wählen Sie bitte die 4. Zum Bergen von Sachgütern wählen Sie bitte die 5. Zum Retten von Katzen auf Bäumen wählen Sie bitte die 6. Zum Buchen eines Brand­schutz­helfer­kurses wählen Sie bitte die 7. Für alle anderen Anliegen bleiben Sie bitte in der Leitung!“

Bergen von Sachgütern? Das passte am besten. Manfred tippte auf die 5. Die zauberhafte Stimme kehrte zurück: „Sie haben die 5 gewählt, Bergung von Sachgütern, ist das richtig?“

„Ja!“

„Zur Qualitätssicherung können einzelne Gespräche aufgezeichnet werden. Wenn Sie damit einverstanden sind, antworten Sie bitte mit ,ja‘!“

„Ja, verdammt!“, rief Manfred ungeduldig.

„Ich habe Sie leider nicht verstanden. Bitte wieder­holen Sie Ihre Antwort.“

„Ja doch!“

„Ich habe Sie leider nicht verstanden. Bitte wiederholen Sie Ihre Antwort.“

Manfred ließ genervt den Hörer sinken. Sollte die Digitalisierung das Leben der Menschheit nicht eigentlich verbessern, statt verkomplizieren? Er bemühte sich, entspannt zu bleiben, als er das Telefon wieder ans Ohr hielt: „Ja.“

„Vielen Dank! Sie werden sogleich mit dem nächsten freien Mitarbeiter verbunden. Bitte haben Sie einen Moment Geduld.“ Die sanfte Stimme wurde abgelöst durch das musikalische Geplärre eines unbekannten zeitgenössischen Popkomponisten, dessen Popkompositionen bei Zuhörern generell eine hohe Schmerztoleranz voraussetzten, was genaugenommen der Grund dafür war, dass der hochsensible Künstler seine Werke der Öffentlichkeit überhaupt nur auf diesem Wege zu Gehör bringen konnte.

Der andere Grund war – man konnte sie kostenlos im Internet herunterladen und durfte sie gemeinfrei auch für gewerbliche Zwecke nutzen, denn für so etwas würde garantiert niemand auch nur eine Münze hinblättern.

Die Zeche zahlten also mal wieder andere. In diesem Fall Manfred, der bereits beim ersten Ton zusammengezuckt war und das Telefon etwas weiter weggehalten hatte, um den menschen­verachtenden Krach nicht direkt ins Trommelfell geprügelt zu kriegen. Gespielt wurden immer nur die ersten zwanzig Sekunden desselben Titels. Nach den drei letzten Sekunden, in denen das Stück tendenziell auf dem Weg der Besserung und im Begriff war, so etwas wie eine entfernte Ähnlichkeit mit Harmonie zu entwickeln, unterbrach die liebliche Stimme die nieder­trächtige Kakofonie: „Bitte haben Sie noch etwas Geduld. Sie werden gleich verbunden!“, gefolgt von einer Wiederholung der Trommelfellprügelei.

Jedes Mal zuckte Manfred zusammen, denn um die Stimme hören und verstehen zu können, musste er das Gerät schnell wieder ans Ohr halten, wo ihn der mörderische Krach stets aufs Neue überraschte. Die Warteschleife des Grauens.

Nach nur 24 Minuten und 180 Sekunden wurde Manfred fast sofort an einen Mitarbeiter durchgestellt. Misstrauisch näherte sich das Ohr dem Telefon: „Hallo?“

„Die Notruf-Einsatzzentrale der Feuerwehr, hallo-­hallo, Sie sprechen mit Pascal, wo brennt’s denn?“ Manfred hatte Schwierigkeiten, den Gesprächspartner zu verstehen, sein Ohr halluzinierte noch immer schmerzhafte Geräusche und abstraktes Rauschen, ähnlich der Retina des menschlichen Auges, die plötzlich Trugbilder ent­stehen lässt, nachdem man eine gewisse Zeit in die Sonne geschaut und die Augen geschlossen hat.

„Tja, … also, hier ist Manfred Mustermann, ich weiß gar nicht, ob ich mit meinem Problem bei Ihnen überhaupt richtig bin.“

„Kein Problem, Herr Mustermann, feuern Sie einfach drauf los!“, antwortete Pascal, 32 Jahre alt, Geburtstag 6. November, Staats­angehörigkeit Deutsch, Geburtsort Unternebenauenbach, Augen­farbe blau, Haarfarbe blond, Größe 186 cm, Gewicht 92 kg, Anschrift 05810 Unternebenauenbach, Dorfstraße 8. „Also, ich habe hier eine Atomrakete, die steht auf dem Grundstück meines Nachbarn, und … nun ja, ich weiß nichts damit anzufangen, ich bräuchte mal Hilfe.“

Anscheinend war die Verbindung nicht optimal, es rauschte und knisterte im Hörer, oder waren das noch immer die Nachwehen der mörderischen Warteschleife? Er fragte: „Hallo? Pascal? Sind Sie noch dran?“ Die Gegen­seite antwortete nicht. In Manfred verkrampfte sich alles. Bitte lass die Verbindung nicht unterbrochen worden sein! Ich ertrage die Warteschleife kein zweites Mal!

„Sagten Sie eben Atomrakete?“

Himmelherrgottundalleheiligenseidank! „Ja! Jajaja, Atomrakete, das sagte ich!“, rief Manfred erleichtert.

„Hören Sie mal, mit so was macht man keine Witze! Wir sind eine systemrelevante Behörde und für solche Scherze nicht die richtige Adresse! Bei uns geht es um Leben und Tod! Wenn Sie mit solch einem Unsinn die Leitung blockieren, können andere, denen es wirklich akut schlecht geht, sterben!“ Manfred protestierte: „Ich habe gerade über zwanzig Minuten in der Warteschleife festgesessen, wäre es bei mir um Leben und Tod gegangen, wäre ich jetzt bereits tot! Außerdem habe ich die Bergung von Sachgütern ausgewählt, wie kann es da um Leben und Tod gehen?“

„Ein umgestürzter Lkw vielleicht?“, stichelte Pascal.

„Ja, und?“

„Mit Kühen drin?“

Manfred fühlte sich ertappt und wurde rot. „Ja, okay, na gut, da haben Sie vielleicht recht“, gab er kleinlaut zu, „das habe ich nicht bedacht.“

„Sehen Sie, und darum sitze ich auch hier an diesem Ende der Leitung, und sie an dem anderen“, freute sich Pascal. „Und auch die Feuerwehr hat mal Mittags­pause“, erklärte er. „Das ist gewerkschaftlich so erkämpft und vereinbart, und da werden wir auch keine Abstriche machen. Überlegen Sie mal, wie viele tapfere Feuerwehrmänner und -frauen im Laufe der Geschichte bei lebendigem Leibe verhungert sind, weil sie mittags nichts zu essen bekommen hatten!“

„Ist ja okay, aber ich brauche wirklich Hilfe.“

„Wie haben Sie die Rakete denn dort hinbekommen?“

„Sie wurde geliefert.“

„Von wem?“

„Von der Post.“

„Von unserer?“

Weder Feuerwehr, noch Polizei und Armee können oder wollen sich der Sache annehmen. Aus lauter Verzweiflung dreht Manfred den Spieß um und gründet die autonome Volksrepublik Atomia, was ungeahnte Folgen haben wird:

„Schatz, ich mache Mittag, was möchtest du denn essen? Die Kartoffeln bereite ich gerade zu, das Gemüse ist bereits im Topf. Welches Fleisch hättest du gern dazu? Ich könnte ein Nackensteak braten, ganz zart und weich, oder Geflügel, wenn du magst. Für Rinderbraten, den du so liebst, reicht die Zeit vielleicht nicht, aber ich könnte ihn für morgen vorbereiten. Was meinst du?“

Ihre Stimme klang angsterfüllt. Die Hände waren ruhelos, zitterten fast, so wie die Stimme, während sie eine der Kartoffeln grausam ihrer Hülle beraubte. Und sie sprach ganze Sätze. Das hatte sie, mit Ausnahme der zwei Sätze gestern Abend, seit Jahren nicht mehr getan.

„Du weißt es also bereits“, sagte er.

„Ja, Hans und Renate haben es mir verraten, sie hatten dein Gespräch mit der Polizei heimlich belauscht. Du besitzt eine Atomrakete. Wir sind nun eine autonome Republik, mit dem Namen …, mit dem … Namen …“

„Atomia. So heißt unsere Heimat nun. Ich bin Präsident, König und Kaiser zugleich. Und ihr seid meine Untertanen!“ Dieser eigentlich scherzhaft geäußerte Satz hatte eine erstaunliche Wirkung. Erika starrte ihren Mann mit weit aufgerissenen Augen an und versuchte verunsichert, sich zu verbeugen, soweit ihre abrissbirnenähnliche Körperform diese Einschätzung zuließ, denn die überall am Körper wuchernden Fettpolster führten gleichzeitig undefinierbare, teilweise gegensätzliche Bewegungen aus, schwabbelten in verschiedene Richtungen, weshalb nicht klar erkennbar war, wohin die allem übergeordnete Hauptbewegung eigentlich zielen sollte. Anscheinend wurde Erika das selber bewusst, weshalb sie noch einen Hofknicks in Erwägung zog, aus reinem Selbsterhaltungstrieb jedoch darauf verzichtete, um ihren ohnehin schon überstrapazierten Hüft- und Knie­gelenken ein unrühmliches, qualvolles Ende zu ersparen.

Bei all den Diktatoren, denen die Menschheit im Laufe der Geschichte ausgeliefert gewesen war, fragten sich im Nachhinein immer Heerscharen von Historikern, Politikwissenschaftlern, Philosophen und Stammtischparoleuren, wie es so weit kommen konnte, wann der Moment vertan war, an dem das Ganze noch hätte gestoppt werden können, und wann genau es begann, schiefzulaufen.

Dies hier war der Moment mit dem Schieflaufen. Manfred fühlte wieder diese unbekannte, unbändige Kraft in sich, das Gefühl, alles erreichen zu können, der Welt seinen Willen aufzuzwingen, sie zu lenken und zu beherrschen: „Rinderbraten! Heute! Ich bin sicher, du bekommst das hin!“ Dann ließ er seine Frau mit kläglichem Gesichtsausdruck in der Küche zurück.

Wenn auch nach atomiasischen Maßstäben mit unverzeihlicher, nach menschlichem Ermessen jedoch verständlicher Verspätung, gelang es Erika, den Wunsch des Ersten Präsidenten Atomias, Politischen Leiters der Bezirksleitung der Siedlung „Edles Tannengrün“, Ersten Vorsitzenden des Politbüros der Atomiasischen Volks­partei, Bruders Nummer 1 der Atomiasischen Volksfront, Leiters des Präsidiums des Atomiasischen Volks­rates, Ehren­mitglieds des Zentralkomitees „Atomi­asischer Wider­stand“, Vorsitzenden des Staatsrates und des Minister­rates Atomias, Generalsekretärs des Zentral­komitees, Geheim­dienstchefs der Atomiasischen Geheim­agentur, Generalsekretärs des Exekutivkomitees des Mustermann­bundes der Demokratischen Jugend, Ersten Vorsitzenden des Raketen­rates, Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates und Oberhaupt­generalstabsgenerals der Atomiasischen Verteidigungsstreitkräfte, Manfred Mustermann, zu erfüllen.

Wird es der Weltgemeinschaft gelingen, Diktator Manfred Mustermann wieder zur Räson zu bringen oder muss sie gar zu härteren Mitteln greifen? Die Antwort finden Sie im Buch!